Wie charismatisch ist Olaf Scholz?

by Daniel Röttinger21. Januar 2022

Ist der neue Bundeskanzler wirklich so wenig charismatisch wie viele vermuten und es in den Medien (Stichwort: “Scholzomat”) häufig besprochen wird? Wir haben Olaf Scholz zusammen mit dem renommierten Wissenschaftler Dr. Oliver Niebuhr einem objektiven Charisma-Check unterzogen.

So bewerten Medien Scholz’ Charisma

Die Presse ist sich einig, dass Scholz keinen Überschwang an Charisma mitbringt. So wird ihm etwa attestiert, dass er "mit dem Charisma einer Tasse Kamillentee" lächele.

Wie charismatisch treten Laschet, Scholz und Baerbock auf?

Die Zeit wirft in ihrem Podcasttitel die Frage "Kanzler ohne Charisma?" auf und liefert in der Einleitung bereits eine Teilantwort "Der künftige Bundeskanzler Olaf Scholz gilt nicht als mitreißender Redner."

Ähnlich beschreibt ein weiterer Artikel Scholz Art: "Olaf Scholz ist kein Mensch, der große Emotionen zeigen und aus sich herausgehen kann. Das ist ihm fremd."

Doch was ist an den Einschätzungen der Journalisten dran? Ein Gespräch mit dem renommierten Wissenschaftler Dr. Oliver Niebuhr, der Scholz’ Auftritte schon länger beobachtet und analysiert, sorgt für Aufklärung.

Interview

Haben die Medien recht - kann man sagen, dass Scholz wenig charismatisch ist?

Nein, das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Denn Charisma ist keine dauerhafte Zuschreibung, sondern vielmehr eine Momentaufnahme. Sprich, Charisma ist bei Menschen variabel, das gilt natürlich auch für Scholz. Hinzu kommt, dass es kein „Alles oder nichts“- Konzept ist, sondern ähnlich wie Temperatur oder Geschwindigkeit, ein graduelles Konzept. Wenn überhaupt, dann müsste man also formulieren “Scholz ist weniger charismatisch als…”.

    Aber es stimmt doch schon, dass seine Wirkung als Redner nicht an Politik-Ikonen  wie Obama heranreicht?

    Völlig richtig. Obama ist allerdings auch ein Benchmark, und kaum ein anderer Politiker vermag Charisma und Esprit so gut zu verkörpern wie er. Und dieses Mehr an Charisma lässt sich auch objektiv feststellen.

    Interessant, und wie?

    Dafür habe ich über Jahre an einer Lösung geforscht und entwickelt, die genau das schafft: Objektiv messen und analysieren, wie charismatisch ein Mensch für andere klingt.

    Wie funktioniert das genau und wie schneidet Scholz ab?

    Dafür habe ich mehrere Auftritte und Reden von Scholz mit unserem Messverfahren ausgewertet. Dabei werden unterschiedliche Parameter der Stimme wie etwa Sprechtempo, Pausendauer oder auch Tonhöhenumfang bewertet. Die einzelnen Bewertungen bilden zusammen dann das Ergebnis, den Charisma-Score. Scholz ist eine 67,4.

    67,4, ist das jetzt gut oder schlecht?

    Der Score reicht von 0 bis 100. Es ist also noch Luft nach oben. Top-Sprecher wie Obama ranken immerhin mit 93,1. Und dennoch ist Scholz’ Leistung durchaus im oberen Mittelfeld, Er bekommt bei uns das Prädikat “Sehr gut ”. Zudem ist wesentlich besser als der deutsche Durchschnitt, der bei 20-40 liegt.

    Ah, das ist doch etwas verwunderlich?

    Finden Sie? Ich meine es liegt in der Natur der Sache, dass er bei einigen Auftritten mehr Stärken und bei anderen mehr Schwächen seiner Sprechstimme preisgibt. Charisma ist wie gesagt keine unveränderliche Größe. Wenn Scholz für ein Thema brennt, dann kann man das hören - und auch messen.

    Schwankungen von 10-20 Punkten beim Charisma-Score sind normal. Teilweise kann man diese Veränderung sogar innerhalb einer längeren Rede feststellen. Hinzu kommt, dass Charisma ein Gesamteindruck aus verschiedenen Eigenschaften ist, die wir einem Sprechenden zuschreiben, darunter Kompetenz, Selbstvertrauen und Leidenschaft.

    Und Scholz ist nicht in allen gleich gut. Seine 67,4 rührt vor allem von Kompetenz her und ein wenig auch von Selbstvertrauen, letzteres ist allerdings weniger konstant. Stimmliche Signale, die bei uns den Eindruck von Leidenschaft wecken, zeichnen ihn eher nicht oder nur sehr, sehr selten aus. Doch eben diese Signale sind es, die das “Otto-Normal-Publikum” primär mit dem Begriff Charisma verbindet. Genau das ist ja auch, was die Medien an ihm kritisieren. Dass man ihn aufgrund seiner Reden z.B. für inkompetent oder schwach hält, habe ich noch nicht gehört oder gelesen, und eben hier liegt sein sagen wir mal verstecktes Charisma mit einem Score von 67,4. Aber es ist sicherlich auch richtig, dass viele Menschen immer wieder über dieselben Charisma-Baustellen stolpern. Und ja, davon hat natürlich auch Scholz ein paar in petto ...

    Was würden Sie Scholz empfehlen? Was macht Scholz gut und wo sollte er noch besser werden?

    Scholz bringt über seine Stimme vor allem Kompetenz rüber. Damit steht er in der Tradition seiner Vorgängerin Angela Merkel. Stimmlich hat sich also im Kanzleramt gar nicht mal so viel geändert (lacht).

    Und da kommen wir auch schon zu den Schwächen: Denn wie schon Merkel schafft es Scholz nur selten, Leidenschaft über seine Stimme zu vermitteln. In dieser Hinsicht ist er tatsächlich noch schwächer, als Merkel es war, die immerhin klar und stark betonen und damit in ihren Reden das Besondere und Neue vom Gewöhnlichen und Bekannten hörbar trennen konnte. Scholz gelingt das nicht gleichermaßen gut und durchgängig. Und Merkel konnte durchaus auch mal Gas geben, wenn es drauf ankam oder die Situation es hergab. Beispiele dafür sind ihrer Pandemie-Rede kurz vor Weihachten 2020, wo es darum ging, die Schulen eine Woche früher zu schließen oder in ihrer letzten Rede als Vorsitzende auf dem CDU-Bundesparteitag 2018.

    Merkel konnte Emotion - hat davon aber nur selten Gebrauch gemacht. Von Scholz habe ich noch nie ähnlich emotionale, leidenschaftliche Reden gehört, eigentlich noch nicht einmal derartige Redeabschnitte. Darüber hinaus pausiert Scholz seltener als Merkel, spricht also zu lange und zu oft “ohne Punkt und Komma”, wie man so schön sagt. Das unterstützt den Eindruck der Monotonie noch weiter. Die Pausen, die vorkommen, sind oft sehr lang. Man könnte vermuten, dahinter steckt die Absicht, “ähs” und “äms” durch Stille zu ersetzen. Das ist in gewissen Grenzen sinnvoll und löblich. Gar keine oder fast gar keine “ähs” und “ähms” zu machen, geht allerdings zu Lasten von wahrgenommener Spontanität.

    Kurzum, was ich raten würde, wäre erstens “mehr Pausen machen”, auch weil im Deutschen vor Pausen oft eine starke melodische Aufwärtsbewegung erfolgt. Insofern wirkt bereits ein Mehr an kurzen (!) stillen Pausen, an verdaulichen Informationshäppchen, der Monotonie in der Stimme entgehen. Kombiniert werden sollte dies zweitens mit stärkerer Betonung derjenigen Informationen im Satz, die wichtig und neu sind. Im Deutschen heißt Betonung in der Tat das Erzeugen einer tonalen Bewegung über dem betreffenden Wort. Auch das lässt also die Monotonie schwinden. Damit sind wir immer noch nicht bei stimmlicher Leidenschaft, aber doch immerhin klanglich ein ganzes Stück dichter dran. Und das letzte Stück kann er ja von seinem Kabinettskollegen Christian Lindner von der FPD imitieren oder von seiner grünen Kollegin Baerbock, die oft mehr Leidenschaft als Kompetenz in der Stimme auszudrücken.

    Haben die Medien mit Ihrer Zuschreibung jetzt recht?

    Ja und nein. Nein deswegen, weil Medien Charisma häufig mit Leidenschaft gleichsetzen und obendrein auf ein “Schwarz-Weiß”-Konzept reduzieren. Man hat es oder eben nicht.

    Beides ist falsch, wie ich zuvor schon sagte. Und wenn wir auch Scholz’ Charisma-Score von 67,4 schauen, ist das Kanzleramt jetzt zumindest nicht weniger charismatisch besetzt als es zuvor der Fall war (Anm. d. Red. Merkel hatte einen Charisma-Score von 65,6). Insofern verbietet es sich, Scholz als uncharismatisch zu bezeichnen. Innerhalb der Bevölkerungsgruppe der Politikerinnen und Politiker jedoch, einer der großen sogenannten “vielsprechenden Berufe”, ist 67,4 gewiss kein Top-Score.

    Hinzu kommt ein “Ja”, denn in der Tat ist Scholz kein leidenschaftlicher Redner, noch weniger als Merkel es war, und mit Leidenschaft sprechen zu können, also Leute inspirieren, mitreißen, begeistern zu können, das ist nun mal ein Kernelement von Charisma. Unter dem Strich würde ich sagen, die Medien haben recht, wenngleich sie es in ihrem Urteil an Differenziertheit vermissen lassen.

    Danke für Ihre Antworten, Herr Niebuhr.

    Über Dr. Oliver Niebuhr:

    Dr. Oliver Niebuhr ist Professor an der University of Southern Denmark (SDU). Niebuhr forscht seit über 20 Jahren zur Sprechmelodie und ist Spezialist für akustisches Charisma und digitale Rhetorik. Zuletzt publizierte er zur Wirkung von Stimme und Charisma in Videokonferenzen. 

    Mit dem Acoustic Voice Profiling® hat Niebuhr ein mehrfach ausgezeichnetes Verfahren zur Messung von Charisma in gesprochener Sprache entwickelt. Als Charisma-Experte ist er gern gesehener Gast in Printmedien, Rundfunk und Fernsehen und durch Beiträge bei Quarks, ARTE und WirtschaftsWoche bekannt.